Menschen mit Komplexer Behinderung – Bewegung im Alltag?
Menschen mit Komplexer Behinderung erleben oft, dass ihre freie Zeit für selbstgestaltete Aktivitäten neben Therapien und Förderung im Hintergrund steht und es keine passenden Angebote für sie gibt.1 So werden pädagogische Angebote meist von therapeutischen Interventionen überlagert.2 So auch beim Thema Bewegung. Bewegung wird für den Personenkreis, insbesondere wenn stärkere körperliche Einschränkungen und Mehrfachbehinderungen vorliegen, oft nur im Rahmen von Physio- und Ergotherapie oder Bewegungsförderung gesehen.3
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Physiotherapie: Physiotherapie unterstützt die Wiederherstellung, Verbesserung oder Erhaltung der Bewegungs- und Funktionsfähigkeit des Körpers. Dabei sollen Schmerzen reduziert werden. Zum Einsatz kommen spezifische Trainings oder Heilmittelanwendungen.3 Physiotherapeutische Ansätze, die Bewegung und Wahrnehmung fokussieren, sind beispielsweise die Therapien nach Vojta und Bobath. Die Vojta-Therapie arbeitet auf neurophysiologischer Grundlage, wurde aber nicht an neuere Erkenntnisse angepasst und wird von Patient*innen oft als unangenehm wahrgenommen. Die Therapie des Ehepaars Bobath wurde hingegen mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen weiterentwickelt und „versteht sich als ein handlungs- und lösungsorientiertes Therapie-Konzept auf neurophysiologischer Grundlage“.4
Ergotherapie: In der Ergotherapie wird beispielweise die Sensorische Integrationstherapie (SIT) eingesetzt. Jean Ayres entwickelte diese in den 1960er Jahren. Als Ziel der SIT wird die Erarbeitung einer sinnvollen, zielgerichteten Antwort auf eine sinnliche Erfahrung gesehen.4 Die Sinnesreize sollen so aufgeschlüsselt werden, dass sie durch den Menschen strukturiert und umgesetzt werden können. Die Förderung der Wahrnehmung und eine systematisierte Reizzuführung kann beispielsweise durch das taktile Erkunden eines Balls erfolgen. Alle Reizanregungen des Gegenstandes Ball setzen sich nach und nach aus einzelnen Wahrnehmungsleistungen zu einem Gesamtbild zusammen.5
Psychomotorik: Das Konzept der Psychomotorik ist geprägt durch „eine ganzheitliche, humanistische, pädagogische oder therapeutische Methode der Entwicklungsförderung über die Lebensspanne durch Bewegung“6. Das Grundkonzept der Psychomotorik ist durch die Verbindung von Bewegung, Wahrnehmung und Erleben charakterisiert.6 Innerhalb der Psychomotorik selbst gibt es verschiedene Perspektiven, die auch bezogen auf die Frage nach Therapie oder Pädagogik unterschiedliche Akzentsetzungen haben. Nach heutiger Auffassung steht die Person selbst im Fokus, nicht ihre Einschränkungen. Mit der Gestaltung von Angeboten und Ermöglichung unterschiedlichster Erfahrungen wird „eine aktional getragene Selbstorganisation“7 angestrebt. Die Psychomotorik ist mit ihren Prinzipien und Zielen nah an den für den Personenkreis wichtigen Aspekten der Individualität, Selbsttätigkeit, Eigeninitiative und Körperlichkeit.8
Bewegungs- und Sportangebote für Menschen mit Komplexer Behinderung können durch den Einbezug einzelner Aspekte der vorgestellten Förderkonzepte profitieren.9 Die verschiedenen therapeutischen Angebote werden aber häufig mit Sport und Bewegung gleichgesetzt, obwohl sie klare Therapie- und Förderziele verfolgen und somit als individuelle Maßnahme gesehen werden sollten.10 „Im weiteren Sinn können sie als Erziehungs- und Bildungsangebote gelten, die Entwicklung und Lernen unterstützen. Dennoch dienen sie primär der Aufrechterhaltung oder Entwicklung funktioneller Bewegungsfähigkeiten, sind insofern dem therapeutischen Bereich zuzuordnen und gelten nicht als genuin pädagogische Aufgabe“2. Schwierig ist, dass Menschen mit Komplexer Behinderung neben ihren möglichen Bewegungseinschränkungen oft viele andere gesundheitliche Probleme haben und somit medizinisch-therapeutisches Fachwissen eine größere Rolle spielt. Die Gesundheitsprobleme der Menschen dürfen nicht zu sehr im Fokus stehen, aber auch nicht zu sehr in den Hintergrund geraten.2
Es ist wichtig, Bewegung nicht nur in Form von Physiotherapie oder anderer motorischer Förderung zu erleben, sondern insbesondere freudvolle und positive Erfahrungen machen zu können.8 Denn Bewegung ist immer auch mit Kommunikation, Emotion und einem Miteinander mit anderen Menschen verbunden.11 Menschen mit Komplexer Behinderung brauchen daher, wie alle anderen Menschen, diverse Möglichkeiten der Bewegung und passend gestaltete Angebote.2
Literatur
1 Maier-Michalitsch, N. J. & Grunick, G. (Hrsg.) (2012). Leben pur – Freizeit bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben. S. 5.
2 Bernasconi, T., & Böing, U. (2015). Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer. S. 142, S. 150.
3 Habermann-Horstmeier, L. (2018). Grundlagen der Gesundheitsförderung in der stationären Behindertenarbeit. Eine praxisbezogene Einführung. Bern: Hogrefe Verlag.
4 Siegert, S. (2011). Therapien für den Bereich Bewegung und Wahrnehmung. In M. Dederich, W. Jantzen & R. Walthes (Hrsg.), Sinne, Körper und Bewegung (S. 306-309). Stuttgart: Kohlhammer. S. 306, S. 309.
5 Kuckuck, R. (2002). Praxiskonzepte zur Förderung und Erziehung schwerstbehin-derter Menschen. In P. Kapustin, R. Kuckuck & V. Scheid (Hrsg.), Bewegung und Sport bei schwer- und mehrfachbehinderten Menschen (S. 17-66). Aachen: Meyer & Meyer Verlag. S. 25ff.
6 Krus, A. (2015). Psychomotorik – Gegenstandsbestimmung. In A. Krus & C. Jasmund (Hrsg.), Psychomotorik in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern (S. 36-56). Stuttgart: Kohlhammer. S. 53.
7 Behrens, M. & Fischer, K. (2014). Bewegung und Mobilität für Kinder mit schwerer und mehrfacher Behinderung. In A. Fröhlich, N. Heinen, T. Klauß & W. Lamers (Hrsg.), Schwere und mehrfache Behinderung – interdisziplinär (S. 255-271). Oberhausen: ATHENA. S. 258.
8 Schoo, M. & Mihajlovic, C. (2021). Sport, Spiel und Bewegung für Menschen mit mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben. S. 72.
9 Häusermann, S. (2019). Erfahrungs- und Erlebnisbereiche in Bewegung und Sport. In PluSport Behindertensport Schweiz (Hrsg.), Sport ohne Grenzen. Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen (S. 26-35). Herzogenbuchsee: INGOLDVerlag. S. 32.
10 Anneken, V. (2014). Das Sportverständnis in diesem Buch. In R. Schliermann, V. Anneken, T. Abel, T. Scheuer & I. Froböse (Hrsg.), Sport von Menschen mit Behinderungen. Grundlagen, Zielgruppen, Anwendungsfelder (S. 1-3). München: Elsevier. S. 2.
11 Anneken, V. (2012). Bewegung und Sport von Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. In N. J. Maier-Michalitsch & G. Grunick (Hrsg.), Leben pur – Freizeit bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen (S. 50-60). Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben. S. 54f.