Entwicklungen seit 1945
Die Geschichte mit Blick auf schulische Inklusion ist bislang noch nicht hinreichend systematisch aufgearbeitet. Darum erfolgt hier eine Darstellung ausgewählter Wegmarken, die für die Entwicklung der schulischen Integration resp. Inklusion als bedeutsam hervorzuheben sind.
Die Einteilung der historischen Entwicklung schulischer Integration resp. Inklusion wird in drei Phasen vorgenommen:
Schule in Ost- und Westdeutschland (1945-1989)
Schauen wir uns gemeinsam die Vergangenheit an: Bis in die 1960er Jahre gab es eine Expansion und weitere Differenzierungen des Förderschulwesens wie von Powell (2011) beschrieben. Interessanterweise sah die Situation in Ostdeutschland (DDR) anders aus. Dort existiert seit den 50er Jahren ein einheitliches Schulsystem, in dem alle Kinder von der ersten bis zur 10. Klasse ohne weitere Differenzierungen gemeinsam unterrichtet wurden. Allerdings mit Ausnahme der Kinder mit Behinderung. Diese wurden von dem System ausgeschlossen und hatten stattdessen eine Sonderschulpflicht so wie separate Sonderschuleinrichtungen. Zudem besuchten Kinder mit Lernschwierigkeiten Hilfsschulen und für Kinder mit geistiger Behinderung bestand bis 1989 keine Schulpflicht (Steinmetz et al., 2021). Eine interessante historische Entwicklung nicht wahr?
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Ende 1960er Jahre
Ausbau der Sonderbeschulung blieb in Westdeutschland nicht unwidersprochen
- politisch aufgeladene Diskussion über die Demokratisierung der Schule und gleiche Bildungschancen für alle (Steinmetz et al., 2021, S. 62)
- Sonderschule wurde infrage gestellt (Steinmetz et al., 2021, S. 62)
- reformorientierte Sonderpädagog*innen und Eltern forderten die integrative Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit sog. "Lern- und Entwicklungsstörungen" in der Regelschule (Ellger-Rüttgard, 2008)
1970er Jahre
Ersten integrativen Schulversuche
- integrative Modellversuche, bei denen Zusammenschlüsse von Regel- und Förderschulen umgesetzt werden sollten (Thümmel, 2003)
1972
„Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens“ der Kultusministerkonferenz
- Schlüsselbegriff „Sonderschulbedürftigkeit“ verweist darauf, dass die je spezifischen Sonderschulen als alleinig geeignet und zuständig angesehen wurden, die Aufgabe der Beschulung/Förderung zu übernehmen (Lütje-Klose & Sturm, 2022)
- Verpflichtung zum Besuch der entsprechenden Sonderschulform (Lütje-Klose & Sturm, 2022)
1973
Empfehlung des Deutschen Bildungsrats „zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Jugendlicher“
- plädierte für eine gemeinsame Unterrichtung in der allgemeinen Schule (Steinmetz et al., 2021)
- Initialzündungen für erste integrative Schulen (Thümmel, 2003)
Späte 1970er Jahre
- zunehmende Unzufriedenheit mit der Unzulänglichkeit des medizinischen Modells von Behinderung und Entwicklung des sozialen Modells (Robeck, 2012)
- Enttäuschung von Betroffenen, Eltern und Lehrkräften mit der umgesetzten Integration (Robeck, 2012)
1980er Jahre
- erste Diskussionen um den Inklusionsbegriff und Inklusionskonzepte in den USA zu Beginn der 1980er Jahre (Hinz, 2012)
- erstmalige Kritik an der Schule für Menschen mit geistiger Behinderung durch eine breite Elterninitiative (Thümmel, 2003)
1983
- es sollte nicht darauf verzichtet werden, bewiesenermaßen effektive Fördermaßnahmen in Sonderschulen beizubehalten (Powell, 2011)
- aufkommende Integrationsbewegung und die Forderung nach einer „Schule ohne Aussonderung“ wurde abgeblockt (Steinmetz et al., 2021)
20. November 1989
- Festlegung des Rechts auf freien Zugang zu allen Formen von Bildung (Danz & Sauter, 2020)
- Grundschulunterricht ist verpflichtend und unentgeltlich (Danz & Sauter, 2020)
Schule im wiedervereinigten Deutschland (1990-2008)
Die Wiedervereinigung und der anschließende Transformationsprozess im Jahr 1990 führt nicht zu einer Neubewertung des bestehenden Schulsystems, wie von Powell (2011) festgestellt. Stattdessen wurden die neuen Bundesländer verpflichtet ein föderales Schulsystem aufzubauen und das gegliederte Schulsystem zu übernehmen (Steinmetz et al.,2021). Gleichzeitig wurde das westdeutsche Sonderschulwesen in die ostdeutschen Bundesländer übertragen (Powell, 2011)
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1994
Salamanca-Erklärung über Prinzipien, Politik und Praxis der Pädagogik für besondere Bedürfnisse (UNESCO)
- zentral ist die klare Verpflichtung zur Inklusion im regulären Schulbetrieb; die Erklärung betont, dass Schulen mit einer inklusiven Ausrichtung als effektivstes Mittel gelten, um diskriminierende Einstellungen zu bekämpfen, eine integrative Gesellschaft zu fördern und das Ziel einer umfassenden Bildung für alle zu realisieren (UNESCO, 1994)
- Inklusionsbegriff löste international den Integrationsbegriff ab (Textor, 2018)
- Salamanca-Erklärung blieb eine Erklärung des guten Willens ohne jegliche völkerrechtliche Bindungskraft (Textor, 2018)
1994
„Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung“ der Kultusministerkonferenz
- von der Salamanca-Erklärung sowie diversen integrativen Schulversuchen der vorherigen Jahre beeinflusst (Textor, 2018)
- die noch 1973 postulierte institutionsbezogene Sonderschulbedürftigkeit wird durch individuellen sonderpädagogischen Förderbedarf ersetzt (Textor, 2018; Lütje-Klose & Sturm, 2022)
- die endgültige Entscheidung über Art und Ort der sonderpädagogischen Förderung verbleibt weiterhin bei der Schulaufsicht (Textor, 2018)
- allgemeine Schule sollte gleichberechtigt neben der Förderschule als möglicher Förderort stehen (Steinmetz et al., 2021)
- sonderpädagogische Förderung wurde nicht mehr an den Förderort Förderschule gebunden (Textor, 2018)
Seit 2000
- Durchsetzung und breite Diskussion des Inklusionsbegriffs auch im deutschsprachigen Raum (Robeck, 2012, S. 221)
Entgegen den Intentionen der Salamanca-Erklärung und der KMK-Empfehlung wurde und wird in Deutschland die sonderpädagogische Förderung mehrheitlich in separierten Einrichtungen bereitgestellt. So blieben die Bemühungen bzgl. der schulischen Integration auf einzelne Initiativen beschränkt (Steinmetz et al., 2021).
Entwicklungen im Bildungsbereich seit 2009
Nachdem wir die aufregenden Entwicklungen während der Wiedervereinigung erkundet haben, werfen wir nun einen Blick auf die Geschehnisse im Bildungsbereich seit 2009. In den letzten Jahren hat sich viel getan und wir werden herausfinden, wie sich das Bildungssystem weiterentwickelt hat. Diese Veränderung werden unser Verständnis von Inklusion und Bildung vertiefen und uns dabei helfen, die aktuellen Herausforderungen besser zu verstehen.
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2009
- auch „UN-Behindertenrechtskonvention“ genannt
- stellt grundlegend fest, dass alle Menschen mit Behinderung das Recht auf inklusive Beschulung haben
- UN-BRK lässt sich als fundamentalen und symbolisch bedeutsamen Schritt für die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung und das Recht auf inklusive Bildung begreifen (Textor, 2018)
- Artikel 24 ist besonders relevant für den Bereich der Bildung: Garantiert Menschen mit Behinderung das Recht auf Bildung und zeigt darüber hinaus Maßnahmen auf, wie dieses umgesetzt werden kann (UN-BRK, 2008)
2011
- Einführung des Begriffs „sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf“ (Lütje-Klose & Sturm, 2022)
- bahnt die Umsetzung der UN-BRK auf schulrechtlicher Ebene an (Lütje-Klose & Sturm, 2022)
- dezidierte Abkehr der Förderschule ist nicht vorgesehen (Dietze, 2019)
- Beschluss verdeutlicht, dass schulische Inklusion in der KMK weiterhin in der Sonderpädagogik verortet ist
- fehlendes Bekenntnis zur Umgestaltung des deutschen Bildungssystems (Lindmeier, 2012)
2015
- Inklusion wurde zum zentralen und globalen Leitprinzip der Bildungsentwicklung (UNESCO, 2015)
- Inklusion und Chancengerechtigkeit stehen im Mittelpunkt des globalen Bildungsplanes im Rahmen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen (Biewer et al., 2019)
2016
- Plädiert für den Erhalt von Förderschulen als „Wahlangebot“ der Erziehungsberechtigten (BMAS, 2016)
Ende 2019
- alle Bundesländer in Deutschland räumen in den Schulgesetzen den Erziehungsberechtigten die freie Wahl zwischen den Lernorten „allgemeine Schule“ und „Förderschule“ ein (Klemm, 2021)