Vernetzte Identitätsbildung
Das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen kann man angesichts des Stellenwerts digitaler Medien auch als „vernetzte Identitätsbildung“ bezeichnen.

Von Beginn ihres Lebens an sind Heranwachsende in einer mediatisierten Gesellschaft mit vielzähligen Medieneinflüssen konfrontiert. Medien stellen einen entscheidenden und prägenden Einflussfaktor auf die Entwicklung dar (vgl. Spanhel 2011: 114 ff.; Süss/ Lampert/ Wijnen 2013: 47 f.; Fleischer/ Hajok 2016: 61 ff.).
Medien nehmen besonders Einfluss auf die Entwicklungen auf entwicklungspsychologischer (Ebene des Individuums) und soziologischer (Ebene der Gesellschaft). Diese überlappen und beeinflussen sich zudem wechselseitig (vgl. Süss/ Lampert/ Wijnen 2013: 50).
Bereits im Säuglingsalter werden Kinder oftmals medialen Reizen ausgesetzt (vgl. Fleischer/ Hajok 2016: 61 f.), die nicht für die Rezeption von Kindern produziert wurden (vgl. Spanhel 2011: 116). Das ist der Fall, wenn zu Hause oder beim Autofahren das Radio läuft (vgl. ebd.: 116). Die Hinwendung zu angenehmen oder Abwendung von unangenehmen Reizen (z. B. durch Drehen des Kopfes in Richtung des Fernsehers und umgekehrt) stellt dann quasi die erste medienbezogene Entwicklungsaufgabe eines Menschen dar (vgl. ebd.). Eine erste medienerzieherische Handlungsanforderungen ist es also, die kindliche Umgebung und deren Medieneinflüsse zu gestalten (vgl. ebd.: 118).
Durch die unausweichliche Berührung mit medialen Einflüssen, kann die Kindheit nicht mehr als Lebensphase gefahrlosen Experimentierens verstanden werden (vgl. Schmidt/ Paus-Hasebrink/ Hasebrink 2009: 18 f.; Fleischer/ Hajok 2016: 16).
Die zunehmend medialisierten Lebenswelten sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Kindern Zugriffs-, Einblick- und Handlungsmöglichkeiten eröffnen, die ihrem Entwicklungsstand oft nicht entsprechen. Darin besteht der entscheidende Unterschied zwischen dem heutigen Auf- und Heranwachsen und dem der Vergangenheit, wo die Erwachsenen die Einflüsse auf die Kinder reguliert haben. Sie haben die Kinder sukzessiv an die Lebenswelt herangeführt und den Takt (idealerweise) an den Entwicklungsstand angepasst. (vgl. Moser 2010: 83 ff.).
Moser veranlasst diese Entwicklung sogar dazu, vom „Verschwinden der Kindheit“ (ebd.: 83) zu sprechen. Mit zunehmendem Alter entwickelt sich dann bei Kindern auch eine eigenständige und aktive Hinwendung zur Mediennutzung (vgl. Fleischer/ Hajok 2016: 64 f.).
Diese dient dann keineswegs nur der passiven Unterhaltung, sondern „[s]ie setzen die Medien aktiv und gezielt ein, um ihren Alltag durch immer neue Erfahrungen zu bereichern, ihre Gefühle auszudrücken, innere Konflikte oder Ängste zu bearbeiten, nach Wertorientierungen und Vorbildern zu suchen oder um sich Bestätigungen für ihre Verhaltensmuster, Denkweisen und Urteile zu holen“ (Spanhel 2011: 141; vgl. Schmidt/ Paus-Hasebrink/ Hasebrink 2009: 19; Fleischer/ Hajok 2016: 68 f.).
Hierbei kann es zu Irritationen und Überforderungen kommen, weil sich etwa mediale Eindrücke nicht stimmig zu realen Erfahrungen in Beziehung setzen lassen (vgl. Spanhel 2011: 142).
Medien und hierbei vor allem Angebote des „Social Web“ (Schmidt/ Paus-Hasebrink/ Hasebrink 2009: 13), welches dadurch kennzeichnet ist, „dass die […] Nutzer selbst zu Inhalteanbietern werden können“ (ebd.), haben im sozialen Miteinander von Jugendlichen einen entscheidenden Stellenwert. Sie „sind ein Bestandteil der Peer-Kulturen“ (Süss/ Lampert/ Wijnen 2013: 54), etwa als Mittel zur Kommunikation oder zur Markierung von verbindender Gemeinsamkeit, z.B. durch Nutzung gleicher Medienangebote und -inhalte (vgl. ebd.).
Webbasierte Angebote, die Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geben, auch selbst als Produzierende in Erscheinung zu treten, tangieren zentrale Bereiche der Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Schmidt/ Paus-Hasebrink/ Hasebrink 2009: 20 ff.; Petry 2010: 78 ff.).
In ganz unterschiedlichen Medienangeboten werden Vorstellungen zu „Geschlechterrollenbilder[n], Modelle[n] von Partnerschaft, Ehe und Erziehung“ (Süss/ Lampert/ Wijnen 2013: 55) und vielen weiteren Fragen transportiert, die die Identitätsfindung bereichern oder erschweren können (vgl. ebd.). Insbesondere ältere Kinder und Jugendliche prüfen „[i]n der Auseinandersetzung mit den medialen Helden und Idolen […] ihr Selbstbild, klären ihre Geschlechterrolle und inszenieren ihre Subjektivität. Im sozialen Bereich nutzen sie die Medien, um sich Ansehen in der Gruppe zu verschaffen, Konflikte mit den Eltern auszutragen und sich von ihnen abzulösen oder sich über Medieninhalte mit anderen zu verständigen“ (Spanhel 2011: 141).
Da anzunehmen ist, dass das identitäts- und sinnstiftende Moment des Medienkonsums in diesem Alter insbesondere dann eine ungünstige Entwicklung einschlägt, wenn reale Erfahrungen wenig Halt geben, „wird sich der pädagogische Blick immer wieder auf die Kontexte richten müssen, die möglicherweise einen problematischen Medienumgang mit bedingen“ (ebd.: 179).
Aus der Perspektive der Fürsorgeverantwortlichen ergeben sich bestimmte Aufgaben, die das Aufwachsen begleiten (vgl. Süss/ Lampert/ Wijnen 2013: 47 f.). Zusammengefasst ergeben sich folgende ‚Entwicklungsaufgaben und Medienkompetenzerfordernisse‘, die den Ausgangspunkt für Erziehungs- und Bildungsaufgaben in einer mediatisierten Gesellschaft markieren:
1) Medienangebote entwerfen vielzählige Weltbilder, die zwar mehr oder weniger realistisch oder bewusst fiktiv sein können aber in jedem Falle immer nur ein Abbild der Wirklichkeit darstellen (vgl. Tulodziecki/ Herzig/ Grafe 2010: 29 ff.; Spanhel 2011: 58). Für Heranwachsende stellt dies eine enorme Herausforderung dar und sie müssen lernen, mit verzerrten und reduktionistischen Abbildern umzugehen (vgl. ebd.).
2) Weite Teile des sozialen Lebens werden durch Medien mitbestimmt. Kinder und Jugendliche müssen lernen, entsprechende Botschaften zuordnen und – im Sinne einer eigenständigen Teilhabe – zielgerichtet produzieren zu können (vgl. ebd.).
3) Medienangebote konfrontieren Heranwachsende mit Einflüssen, die den Entstehungsprozess einer eigenen Identität tangieren (vgl. Ganguin/ Sander 2008; Spanhel 2011: 58). Kinder und Jugendliche müssen lernen, mit positiven und negativen Einwirkungen umzugehen und zugleich eine „moralisch[e] Verantwortungshaltung im Umgang mit den Medien“ (Spanhel 2011: 59) auszubilden.
Um zusätzliche Informationen aufzurufen, klicken oder tippen Sie auf dieses Icon.

Wir wollen uns der Frage annehmen, wie die Mediensozialisation von Kindern gelingen kann. Dazu müssen wir jedoch zunächst als Tatsache anerkennen, dass Heranwachsende in eine mediatisierte Gesellschaft hineinwachsen und dies mit einem unumkehrbaren gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess einhergeht.
Was sind nun Gelingensbedingungen für eine erfolgreiche Mediensozialisation?
Mit der Medienentwicklung gehen sowohl Risiken, als auch Potenziale einher. Entscheidend ist vor diesem Hintergrund die Frage, wie sich Risiken vermeiden und Potenziale heben lassen.
Fleischer/ Hajok bezeichnen mangelnde Kompetenzen im Umgang mit Medien als „Angriffsfläche“ (2016: 93). Dieser sollte die medienerzieherische Einflussnahme als stabilisierendes Korrektiv entgegengesetzt werden (vgl. Spanhel 2011: 142 f.).
Medieneinflüsse stellen eine zentrale Einflussgröße auf die Entwicklung dar. Der Einfluss von Medien lässt sich nur im Kontext des sozialen Systems, in dem Kinder und Jugendliche aufwachsen, verstehen. Die Wirkrichtung des Einflusses wird durch die erzieherische Begleitung des Medienkonsums bestimmt (vgl. ebd.: 55).
Die spezifischen Herausforderungen, die sich den Heranwachsenden im Laufe der Entwicklung im Zuge der Konfrontation mit Medienangeboten stellen, können sie nur dann gelingend bewältigen, wenn sie medienerzieherische Begleitung erfahren haben (vgl. ebd.: 58 f.) und (deshalb) über eine entsprechende Medienkompetenz verfügen (vgl. Niesyto 2011: 19).
Literatur

1 Fleischer, Sandra/ Hajok, Daniel (2016): Einführung in die medienpädagogische Praxis und Forschung. Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld der Medien. Weinheim: Beltz Juventa (Studienmodule Kindheitspädagogik).
2 Schmidt, Jan-Hinrik/ Paus-Hasebrink, Ingrid/ Hasebrink, Uwe (Hg.) (2009): Heranwachsen mit dem Social-Web. Zur Rolle von Web 2.0 Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Berlin: Vistas (Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, Band 62).
3 Moser, Heinz (2010): Einführung in die Medienpädagogik. Aufwachsen im Medienzeitalter. 5. durchgesehene und erweiterte Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
4 Niesyto, Horst (2011): Keine Bildung ohne Medien! Breites Bündnis zur Medienkompetenzförderung in Deutschland. In: Rudolf Kammerl, Renate Luca und Sandra Hein (Hg.): Keine Bildung ohne Medien! Neue Medien als pädagogische Herausforderung. Berlin: Vistas, S. 15-30 (Schriftenreihe der Medienanstalt Hamburg/ Schleswig-Holstein, Band 4).
5 Spanhel, Dieter (2011): Medienerziehung. Erziehungs- und Bildungsaufgaben in der Mediengesellschaft. 2., unveränderte Aufl. München: kopaed.
6 Süss, Daniel/ Lampert, Claudia/ Wijnen, Christine W. (2013): Medienpädagogik. Ein Studienbuch zur Einführung. 2., überarbeitete und aktualisierte Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
7 Tulodziecki, Gerhard/ Herzig, Bardo/ Grafe, Silke (2010): Medienbildung in Schule und Unterricht. Grundlagen und Beispiele. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.