Zeitstrahl
Der Zeitstrahl lässt Sie in fünf historische Entwicklungszeiträume des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung blicken. Neben dem gesellschaftlichen Umgang fokussieren die Erläuterungen, ob Menschen mit Behinderung zu dieser Zeit ein Recht auf Leben hatten und ob ihnen ein Recht auf Bildung zustand – das war nämlich längst nicht immer der Fall!
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Mittelalter
Durch die zunehmende Verbreitung des Christentums im Mittelalter und das Taufen von Neugeborenen, auch mit körperlichen Schädigungen, erhielten diese erstmalig ein „Lebensrecht“ – jedoch schützte es nicht vor gesellschaftlichen Vorurteilen, Anfeindung, Misshandlungen, Ausgrenzung und Vertreibung. Die Kirche etablierte zudem Almosen sowie medizinische Behandlungen.⁶
Trotz der schrittweisen Zuwendung blieben Ängste, Vorurteile und Mythen rund um das Thema Behinderung gesellschaftlich fest verhaftet. So beschreibt Luther beispielsweise sogenannte „Wechselbälger“ – die gesunden Neugeborenen seien im Mutterleib oder nach der Geburt gegen ein verhextes Kind mit körperlicher Schädigung oder Missbildung ausgetauscht worden.⁷
Nationalsozialismus
Die Zeit des Nationalsozialismus stellt ohne Frage einen tiefen Einschnitt in die Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit Menschen mit Behinderung sowie deren Recht auf Leben und Bildung dar. Die NS-Behindertenpolitik war eng mit der Rassenideologie verwoben. So wurde der Wert von Menschen mit Behinderung anhand zweier Aspekte ausgemacht: 1. Dem rassischen Wert und 2. der Brauchbarkeit, womit in der Regel die Arbeitsfähigkeit gemeint war.¹¹
1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft, welches eine Vielzahl an Zwangssterilisationen nach sich zog. Ab 1939 wurden Menschen mit Behinderung im Rahmen des „Euthanasie“-Programms getötet, um so vermeintliche Rassenhygiene herstellen zu können. „Euthansie“ ist griechisch für „leichter Tod“ und in dem Sinne irreführend, da es sich hier nicht um Sterbehilfe, sondern um die systematische Ermordung von Menschen mit Behinderung handelt. Die Idee der Tötung von „unwertem Leben“, „leeren Menschenhülsen“ und „Ballastexistenzen“ war jedoch keine erstmalige Bestrebung. Diese wurde bereits von einigen Vertretern nach dem 1. Weltkrieg propagiert – verschwand jedoch wieder ohne umgesetzt zu werden bis 1939.¹² Schätzungsweise wurden durch die „Euthanasie“ in der NS-Zeit 100.000 bis 200.000 Menschen mit Behinderung getötet.¹³ Menschen, die nach der NS-Ideologie nicht als „brauchbar“ galten, wurde somit das Recht auf Leben wieder entzogen.
Frühgeschichte und Altertum
(Körper-)Schädigungen und Erkrankungen gibt es seit Anbeginn der Menschheit. So zeigen beispielsweise Skelette aus der Steinzeit körperliche Schädigungen und damit in Verbindung zu bringende instinktive Heilversuche.¹ Die Tötung von Neugeborenen war in nahezu allen Völkern ein legitimes Mittel der Geburtenregulierung. Neugeborene und Kinder mit körperlichen Schädigungen und Missbildungen waren davon besonders bedroht. Ein Grundrecht auf Leben gab es nicht, eines auf Bildung erst recht nicht.² Menschen mit Behinderungen wurde mit Vorurteilen und Spott begegnet. Nicht selten wurden sie, z.B. als Hofnarren, zur Schau gestellt. Gleichzeitig gab es jedoch auch erste Formen staatlicher Fürsorge und Rücksichtnahme wie z.B. im alten Ägypten.³ Hier zeigt sich das Spannungsfeld, in dem sich der gesellschaftliche Umgang mit Menschen mit Behinderung befand.
Mythen und Märchen – aber auch biblische Texte – berichten zudem nicht nur über Menschen mit Körperschädigungen, sondern auch nicht selten über Psychopathen, Depressive, Schizophrene und „die vom Wahn Befallenen“. Dabei sind körperlich geschädigte Menschen jedoch weitaus öfter im Kontext von Märchen und Mythen zu finden, also als Heldengestalten, als sogenannte „Schwachsinnige".⁴ So auch in der Realität: Konnten Schädigungen durch einen Unfall oder eine Kriegsverletzung erklärt werden, war die gesellschaftliche Akzeptanz größer. Waren die Erkrankungen oder Schädigungen jedoch nicht erklärbar (wie z.B. bei Epilepsie), so wurde eher mit Angst und Abweisung reagiert – auch weit über die Frühgeschichte und das Altertum hinaus.⁵
Zeit der Aufklärung
„Nicht nur die Kinder der Reichen und Vornehmen sollen zum Schulbesuch angehalten werden, sondern alle in gleicher Weise, Adlige und Nichtadlige, Reiche und Arme, Knaben und Mädchen aus allen Städten, Flecken, Dörfern und Gehöften“⁸ - Comenius (1592-1670)
Die Idee der Bildsamkeit und des Bildungsrechts aller Menschen entstand – so auch für sonst benachteiligte und arme Kinder sowie Menschen mit Behinderung. Zwar hatte es immer Bildungsbemühungen für Menschen mit Behinderungen gegeben, jedoch in der Regel nur für sehr wenige und Angehörige der Oberschicht. Im späten 18. Jahrhundert entwickelten sich hingegen nun planvolle und allgemeine Bestrebungen: So kam es zu Gründung erster Institutionen zur Bildung von Menschen mit Behinderung – zunächst für gehörlose und blinde Schüler*innen, später auch für Kinder mit körperlicher und geistiger Behinderung. Das „Bildungsrecht“ etablierte sich.⁹
Zudem gab es bedeutende Fortschritte in der Medizin sowie in der Technik. Das Bild des Bereichs „Zeit der Aufklärung“ zeigt den ersten handbetriebenen Rollstuhl aus dem Jahr 1655.¹°
Zeit nach dem 2. Weltkrieg
Nach Ende des 2. Weltkriegs war die Situation als katastrophal anzusehen: Während der NS-Zeit wurden keine personellen wie materiellen Ressourcen in die Bildung von Menschen mit Behinderung investiert.¹⁴ Auch die Aufarbeitung des Geschehenen in der Sonderpädagogik begann nicht direkt, zu einer kritischen Auseinandersetzung kam es erst in den 1980er Jahren.¹⁵
Der Aufbau von Bildungsinstitutionen erfolgte bis in die 50er Jahre durch Beschulung in Heimen, erst dann entwickelte sich eine familiennahe Tagesbeschulung durch Sonderschulen.¹⁶1960 legte die Kultusministerkonferenz das „Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens“ vor, das 12 unterschiedliche Sonderschulformen vorsah, wie z.B. eine Sprachheilschule, eine Gehörlosenschule, eine Erziehungsschwierigenschule und eine Körperbehindertenschule.¹⁷ Eine Schule für Kinder mit geistiger Behinderung wurde zunächst noch nicht berücksichtigt. Spezielle Hilfsklassen für Kinder mit geistiger Behinderung entstanden erst Mitte der 60er Jahre.¹⁸
Auf Basis dieser Empfehlung entwickelte sich ein ausdifferenziertes Sonderschulsystem und ein Netz an Sonderinstitutionen, wie Sonderkindergärten und Berufsbildungswerke. Das erklärte Ziel aller Institutionen und Förderbemühungen ist die Anpassung von Menschen mit Behinderung an gesellschaftliche Normvorstellungen¹⁹, um diesen so „den Weg zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (Integration) zu ermöglichen“²⁰.
Literatur

1 Vgl. Bergeest, H. & Boenisch, J. (2019): Körperbehindertenpädagogik. Grundlagen – Förderung – Inklusion. 6. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S.92.
2 Vgl. Häßler, G. & Häßler, F. (2005): Geistig Behinderte im Spiegel der Zeit. Vom Narrenhäusl zur Gemeindepsychatrie. Stuttgart: Thieme. S.6.
3 Vgl. Bergeest, H. & Boenisch, J. (2019): Körperbehindertenpädagogik. Grundlagen – Förderung – Inklusion. 6. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S.93.
4 Vgl. Häßler, G. & Häßler, F. (2005): Geistig Behinderte im Spiegel der Zeit. Vom Narrenhäusl zur Gemeindepsychatrie. Stuttgart: Thieme. S.2f.
5 Vgl. Bergeest, H. & Boenisch, J. (2019): Körperbehindertenpädagogik. Grundlagen – Förderung – Inklusion. 6. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S.90f.
6 Vgl. ebd. S.94.
7 Vgl. ebd. S.91.
8 Schaller, Klaus (1995): Die Didaktik des Johann Amos Comenius zwischen Unterrichtstechnologie und Bildungstheorie. S.49. In: Hopmann, S. & Riquarts, K. (Hrsg.): Didaktik und/oder Curriculum. Grundprobleme einer international vergleichenden Didaktik. Weinheim u.a.: Beltz. S.47-60.
9 Vgl. Ellger-Rüttgardt, S. (2019): Geschichte der Sonderpädagogik. 2. Auflage. München: Ernst Reinhardt. S.20f.
10 Vgl. Bergeest, H. & Boenisch, J. (2019): Körperbehindertenpädagogik. Grundlagen – Förderung – Inklusion. 6. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S.94.
11 Vgl. Ellger-Rüttgardt, S. (2019): Geschichte der Sonderpädagogik. 2. Auflage. München: Ernst Reinhardt. S.244.
12 Vgl. ebd. S.249ff.
13 Vgl. Bergeest, H. & Boenisch, J. (2019): Körperbehindertenpädagogik. Grundlagen – Förderung – Inklusion. 6. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S.95.
14 Vgl. Ellger-Rüttgardt, S. (2019): Geschichte der Sonderpädagogik. 2. Auflage. München: Ernst Reinhardt. S.298.
15 Vgl. Bergeest, H. & Boenisch, J. (2019): Körperbehindertenpädagogik. Grundlagen – Förderung – Inklusion. 6. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S.95.
16 Vgl. Ellger-Rüttgardt, S. (2019): Geschichte der Sonderpädagogik. 2. Auflage. München: Ernst Reinhardt. S.300.
17 Vgl. ebd. S.302.
18 Von Stechow, E. (2016): Sonderpädagogik als Pädagogik für besondere Schulen. In: Hedderich, I., Biewer, G., Hollenwegger, J., Markowetz, R. (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S.34f.
19 Vgl. Bergeest, H. & Boenisch, J. (2019): Körperbehindertenpädagogik. Grundlagen – Förderung – Inklusion. 6. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S.40.
20 Ebd. S.40.