4. Behinderung
Ob eine Behinderung vorliegt oder nicht, wird aus fachlicher Perspektive häufig unterschiedlich definiert – genau wie der Begriff “Normalität” (vgl. Doll-Tepper 2012, S. 1). In der Vergangenheit hat die medizinische Perspektive das Feld dominiert und zu einem breiteren, medizinisch geprägten Grundverständnis des Begriffs geführt, doch seit einiger Zeit sind die gesellschaftlichen Prozesse im Kontext von „Behinderung” im Fokus der Forschung — auch „social model of disability” genannt (vgl. ebd.). Es geht eben nicht nur um Körper und Geist. Dahingehend findet derzeit ein Umdenken statt. Man kann Behinderung heute auch als ein Konzept der gesellschaftlichen Ausgrenzung verstehen, „[…] als relative und relationale Kategorie eines jeweils zu bestimmenden Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft […]“, anstatt als „‘Abweichung von der Norm‘, als Eigenschaft eines Subjekts, als statischem Zustand“ (Stein 2014, S. 1).
Durch die Frage, welche Personen von wem als behindert eingestuft werden, ergeben sich diverse Problematiken:
Die juristische Problematik: Kinder mit Sonderpädagogischem Förderungsbedarf (SFB) der Kategorien „Lernen“ und „emotionale und soziale Entwicklung“ sind (zumindest teilweise) nicht als behindert eingestuft, bilden allerdings die größten Gruppen Förderbedürftiger und bedürfen „besonderer schulischer Förderung“ (Doll-Tepper 2012, S.2).
Die Lebenslaufproblematik: Schüler*innen mit diesen SFB Kategorien erhalten aufgrund des fehlenden Status als „Behinderte“ nach dem Ausscheiden aus dem System Schule idR. keine Förderung mehr (zumindest nicht automatisch; wachsende Schwellen) – obwohl der Bedarf meist weiterhin bestehen bleibt (vgl. ebd.).
Diskriminierung: Die soziale Situation von (behinderten) Kindern mit SFB “ist gekennzeichnet durch einen elementaren Widerspruch zwischen offizieller Entlastung für ihre Abweichung von der Norm einerseits und tatsächlicher Diskriminierung mit Zuweisung einer besonderen, abweichenden Rolle andererseits“ (Cloerkes 2007, S. 166; Zit. Nach Ewald 2016, S.4).
Das Inklusionskonzept verlangt ein Etikett: „Deutschland unterliegt mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention der Forderung eines inklusiven Schulsystems, wodurch sich die Diskussion um den inklusiven Unterricht verschärft“ (Ewald 2016). Das Inklusionskonzept der Bundesrepublik bleibt nach wie vor an den Status des sonderpädagogischen Förderbedarfs gekoppelt, da Kinder diesen benötigen, um weitergehende Förderung, Priorisierung und Ressourcen zu erhalten. Hierbei liegt auf der Hand, dass der Status als „Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SFB)“ die soziale Rolle, -Position und -Akzeptanz der betreffenden Kinder in den Schulen beeinflusst (vgl. Ewald 2016).
Weitere Informationen und Literatur über die Rollenzuschreibung von Behinderungen finden Sie hier.
Literatur
Cloerkes, G. (2007). Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. 3. neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Heidelberg: Universitätsverlag Winter GmbH.
Doll-Tepper, Gudrun 2012: „Stellungnahme zum Thema „Menschen mit Behinderungen” als Schwerpunktteil des Bildungsberichtes 2014“
Ewald, Tanja 2016: Stigmatisierungsprozesse. Sichtweisen, Forschungsbelege und Ableitungen für den inklusionsförderlichen Unterricht. Potsdamer Zentrum für empirische Inklusionsforschung (ZEIF)