Begriffsdefinition
Besondere Verhaltensweisen von Lernenden mit einer geistigen Behinderung sind sowohl in der Theorie als auch in der Praxis immer wieder Thema.
So ist die Rede von herausforderndem, kreativem oder originellem Verhalten, Verhaltensstörungen, -besonderheiten oder -auffälligkeiten, Menschen in festgefahrenen Situationen, mit Problemverhalten, psychischen Auffälligkeiten oder Störungen. Die begriffliche Vielfalt scheint endlos und signalisiert, nicht zuletzt durch eine unklare Abgrenzung und eine uneinheitliche Verwendung, Unsicherheiten 1.
Die Grenzen zwischen Verhalten als Symptom einer psychischen Störung und eines nicht pathologischen Verhaltens im Rahmen der Behinderung und der einhergehenden Entwicklungsverzögerung scheinen zu verschwimmen 2.
Eindeutige diagnostische Kriterien psychischer Störungen, die eine valide Abgrenzung ermöglichen, gibt es bislang nicht 3.
Dennoch soll eine Arbeitsdefinition skizziert werden, um handlungsfähig zu sein und bei psychischen Störungen zeitnah auch medizinische Maßnahmen einzuleiten 4.
Sie erhalten Arbeitsdefinitionen zu den zentralen Begriffen dieses Lernmoduls, indem Sie die Informations-Symbole in der Grafik anklicken oder antippen.
Abgrenzung 1: psychische Störung oder Verhaltensauffälligkeit?
Wenn Verhaltensauffälligkeiten „einen psychopathologischen Hintergrund haben (…), signalisieren sie eine psychische Störung”10. Das bedeutet, dass Verhaltensauffälligkeiten nicht zwangsläufig Symptom einer psychischen Störung sein müssen und ebenso wenig einer Behandlung bedürfen. Erst wenn sie starkes Leid für den/die Betroffene*n bedeuten, kann von einer psychischen Störung gesprochen werden.
Ob und in welchem Ausmaß Menschen mit einer geistigen Behinderung Leid empfinden können, ist in Teilen noch immer umstritten, wird an dieser Stelle jedoch angenommen.
Abgrenzung 2: psychische Störung oder Verhaltensstörung?
In der ICD-1011 werden psychische Störungen, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen zwar als eigene Kategorien betrachtet, aber gemeinsam aufgeführt. Eine klare Differenzierung erfolgt in den gängigen Klassifikationssystemen somit nicht, was durch viele Autoren kritisiert wird (u.a. von Wüllenweber8 ). Um beispielsweise bei Ess- oder Schlafstörungen als Verhaltensstörungen nicht zwingend psychopathologisches Leiden vorauszusetzen und eine klare Abgrenzung vorzunehmen, unterscheide ich psychische Störungen im engeren und im weiteren Sinn.
Literatur
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1 Theunissen, G. (2016): Geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten. Ein Lehrbuch für die Schule, Heilpädagogik und außerschulische Unterstützungssysteme. 6. Auflage. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. S. 52.
2 Sarimski, K. (2011): Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung. Prävalenz und Prävention. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 60, 510-526.
3 Schäper, S. & Glasenapp, J. (2016): Barrieren in der psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung. Einschätzungen und Eindrücke zum aktuellen Stand. In J. Glasenapp & S. Schäper (Hrsg.), Barrierefreie Psychotherapie. Möglichkeiten und Grenzen einer psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung. Dokumentation der Fachtagung der DGSGB am 11. März 2016 in Kassel (S.4-12). Band 37. Berlin: DGSGB. Verfügbar unter: https://dgsgb.de/downloads/materialien/Band37.pdf.
4 Paniflova, S. (2017): ‘Einfache’ Verhaltensauffälligkeit oder Symptome einer Krankheit? In G. Grunick & N. Maier-Michalitsch (Hrsg.), Leben pur – Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Komplexer Behinderung (S. 31-38). Düsseldorf: Verlag selbstbestimmtes Leben.
5 Schulz, G. J. (2011): Lehrer und ihre auffälligen Schüler. Eine qualitative Studie zu Verhaltensauffälligkeiten an Förderschulen. Marburg: Lebenshilfe Verlag. S. 29.
6 Kulig, W. & Theunissen, G. (2012): Verhaltensauffälligkeiten bei Schülerinnen und Schülern mit geistiger Behinderung. Forschungsergebnisse und Impulse für die Praxis. In C. Ratz (Hrsg.), Verhaltensstörungen und geistige Behinderung (S. 123-144). Oberhausen: Athena. S. 126.
7 Hennicke, K. (2014): Verhaltensauffälligkeiten – Problemverhalten – Psychische Störung. Unterschiede und Entscheidungshilfen. In K. Hennicke & T. Klauß (Hrsg.), Problemverhalten von Schüler(innen) mit geistiger Behinderung (S. 220-249). Marburg: Lebenshilfe Verlag. S. 222.
8 Wüllenweber (2003) zitiert nach Sarimski, K. (2012): Zur Bedeutung von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung. In C. Ratz (Hrsg.), Verhaltensstörungen und geistige Behinderung (S. 39-54). Oberhausen: Athena. S. 39.
9 Haveman & Stöppler, R. (2014): Gesundheit und Krankheit bei Menschen mit geistiger Behinderung. 1. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. S. 125
10 Lingg, A. & Theunissen, G. (2017): Psychische Störungen und geistige Behinderung. Ein Lehrbuch und Kompendium für die Praxis. 7. Auflage. Freiburg im Breisgau: Lambertus. S. 19.
11 Weltgesundheitsorganisation (2014), übersetzt und herausgegeben von H. Dilling, W. Mombour & M. H. Schmidt: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. 9. Auflage. Bern: Huber.