Phasen der Elternbewegung
Seit Mitte der 1970er Jahre haben Eltern bzw. Familien von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen eine herausragende Rolle in der Integrations- und Inklusionsbewegung gespielt. Ihr Engagement und ihre Entschlossenheit waren und sind maßgeblich für die positive Entwicklung in diesem Bereich verantwortlich. Die Elterninitiativen haben einen großen Beitrag geleistet, um die rechte und die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft zu stärken. Ihr unermüdliches wirken ist bis heute spürbar und von unschätzbarem Wert.
Wir werden in diesem Kapitel tiefer in dieses bedeutenden Thema eintauchen und die Rolle der Eltern in der Inklusion näher beleuchten (nach Hüwe & Roebke, 2006 & Textor, 2018). Bleiben Sie gespannt und motiviert, denn wir werden wichtige Erkenntnisse gewinnen, die uns bei unserem Verständnis von Inklusion weiterhelfen werden.
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1 – Pionier und Durchsetzungsphase (1975-1987)
1975 - Erste integrative Vorklasse an der Fläming-Grundschule in Berlin
- Elterninitiative veranstaltet über Berlin hinaus Infiormationsveranstaltungen und planen das politische Vorgehen
- Motive der Eltern: persönliches Interesse, soziale Hoffnung, Bereicherung der eigenen Empathifähigkeit
Anfang 1980er Jahre - Einrichtung integrativer Klassen an vielen Grundschulen in Westdeutschland
- bundesweite Vernetzung von Eltern, Wissenschaftler*innen, Sozialverbänden und Pädagog*innen
- Elternbewegung erhält zunehmend Gegenwind
- international finden sich Eltern in der „Internationalen Liga von Vereinigungen für Menschen mit geistiger Behinderung“ (heute „Inclusion International“) zusammen
1987 - 5. Bundeselterntreffen in Hamburg
- Verabschiedung der Resolution, die die Forderung nach uneingeschränkter Berücksichtigung des Elternwillens enthält
- wissenschaftliche Begleitung von Modell- bzw. Schulversuchen des gemeinsamen Lernens
2 – Ausweitungsphase (1988-1992)
1988 - “Pädagogische Emigration”
- Nutzung juristischer Mittel, um schulische Integration voranzutreiben
- einige Eltern verlassen ihre Heimatstadt, das Bundesland oder sogar Deutschland, um bessere Integrationsmöglichkeiten aufzusuchen
1997 - Bundesverfassungsgericht fällt einen Grundsatzbeschluss
Einerseits wird betont, dass es bedauerlich ist, dass Eltern nicht das Recht auf Integration zugesprochen wird. Andererseits wird als bedeutsam erachtet, dass die jeweilige Schule oder die übergeordnete Behörde nachweisen muss, welche konkreten Förderbedürfnisse des einzelnen Kindes nicht erfüllt werden können und welche Bemühungen unternommen wurden, um diesen Anforderungen gerecht zu werden (Boban & Hinz, 2003).
1990er Jahre - Elternbewegung verliert an Schlagkraft
- Eltern stoßen besonders in Bayern und Baden-Württemberg auf Ablehnung
- Hoffnung nach der Wiedervereinigung, dass sich in der ehemaligen DDR fortschrittliche Elterninitiativen bilden und integrative Schulkonzepte nach dem Vorbild anderer Länder ins Leben gerufen werden
- die neuen Bundesländer übernehmen das dreigliedrige Schulsystem nach westdeutschem Vorbild
1992 - Bundesverdienstkreuz
- Christa Roebke erhält das Bundesverdienstkreuz für ihre ehrenamtliche Tätigkeit
3 – Normalisierungs- und Diversifizierungsphase (1993-aktuell)
Entstehung neuer Aufgabenfelder für die Elternbewegung
- Selbstvertrauen der Elternbewegung und Kritik an der Sonderpädagogik nimmt zu
- die Qualität des Unterrichts wird hinterfragt
- Elternbewegung setzt das Sonderschulwesen unter verstärkten Legitimationsdruck
Generationswechsel in der Elternbewegung
- neue Eltern stehen vor ähnlichen Problemen wie die erste Generation der Elternbewegung
Ab der Jahrtausendwende - Zahl der Mitglieder*innen in der Elternbewegung sinkt
- Landesverbände lösen sich teilweise auf
- Herausbildung zwei großer Säulen der Elternbewegung: Die eine nimmt ein politisches Mandat wahr und verfolgt vor allem bildungspolitische, aber auch grundlegende Ziele der Anerkennung von Menschen mit Behinderung. Die andere Säule fokussiert die Selbsthilfe zwischen Eltern von Kindern mit Behinderung.
Lektüreempfehlung
Boban, I. & Hinz, A. (2003): Eltern als Motor der Integrationsbewegung in Deutschland. In: Wilken, U. & Jeltsch-Schudel, B. (Hrsg.): Eltern behinderter Kinder. Empowerment – Kooperation – Beratung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 189-203.