Geistige Behinderung
Zu dem Begriff “geistige Behinderung” gibt es mittlerweile eine Menge an unterschiedlichen Bezeichnungen und Definitionen.1 Diese stammen aus verschiedenen Auffassungen und Perspektiven.2 Gründe für diese verschiedenen Sichtweisen sind zum einen die Heterogenität des Personenkreises und zum anderen die Komplexität des Phänomens Behinderung an sich. 3
Um einen Einblick in die verschiedenen Perspektiven und ihre Definition von geistiger Behinderung zu bekommen, klicken oder tippen Sie auf dieses Icon oder diesen Text.
Medizinische Perspektive
Die medizinische Perspektive beschreibt geistige Behinderung anhand von Ursachen, der Vor- und Entstehungsgeschichte sowie dem Erscheinungsbild. Zu geistiger Behinderung gehören verschiedene Erscheinungs- und Störungsformen, dessen Ursprünge nicht immer eindeutig sind. Eine solche Behinderung kann nämlich vor, während oder nach der Geburt durch unterschiedliche Faktoren wie z.B. Stoffwechselstörungen, Konsum chemischer Substanzen durch die Mutter oder Geburtskomplikationen entstehen. Äußern kann sich diese beispielsweise durch Chromosomenirritationen wie die Trisomie 21, eine frühkindliche Cerebralparese, Fehlbildungen des Gehirns oder andere Schädigungen von Körperstrukturen, welche negative Auswirkungen auf die Bewegung, Wahrnehmung, Kommunikation und Kognition haben können.4
Psychologische Perspektive
Die psychologische Perspektive definiert geistige Behinderung als einen “Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeit”. 5 Dabei betrachtet sie den Intelligenzquotienten (IQ) einer Person und ordnet diesen in die IQ-Bereiche der internationalen Klassifikationssysteme “Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10)” und “Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (DSM-V) ein. 6 In der ICD-10 werden dazu, ähnlich wie beim DSM-V folgende Kategorien voneinander unterschieden:
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- F70.- Leichte Intelligenzminderung (leichte geistige Behinderung): IQ-Bereich von 50-69
- F71.- Mittelgradige Intelligenzminderung (mittelgradige geistige Behinderung): IQ-Bereich von 35-49
- F72.- Schwere Intelligenzminderung (schwere geistige Behinderung): IQ-Bereich von 20-34
- F73.- Schwerste Intelligenzminderung (schwerste geistige Behinderung): IQ unter 20
Entsprechend dieser Klassifikation liegt eine geistige Behinderung ab einem IQ-Wert von unter 70 vor, welcher mit fallendem Wert an Schweregrad zunimmt.7
Soziologische Perspektive
Aus soziologischer Perspektive wird geistige Behinderung nicht als Merkmal einer Person, sondern als ein Ergebnis des Verhaltens der Gesellschaft angesehen. Denn Menschen, die wegen geistiger, körperlicher oder anderer Beeinträchtigungen von den gesellschaftlichen Normvorstellungen abweichen, erfahren häufig negative Reaktionen und werden von der Gesellschaft ausgeschlossen und sozusagen “behindert”.8
Pädagogische Perspektive
Die pädagogische Perspektive erfasst geistige Behinderung im Kontext von Bildung und Erziehung und betrachtet dabei die individuellen Lernmöglichkeiten und Entwicklungsprozesse eines Menschen. Diese sind abhängig von dem Umfang der Störungen des Gehirns, den zusätzlichen Beeinträchtigungen, den Lebensbedingungen und den Möglichkeiten an sozialer und kultureller Teilhabe. Menschen mit geistiger Behinderung sind dementsprechend häufig in ihren Lernprozessen beeinträchtigt, weshalb die individuelle Unterstützung benötigen.9
Alle einzelnen Perspektiven und Sichtweisen allein sind zu einseitig, um geistige Behinderung ausreichend zu definieren.10 Daher muss dieses Phänomen mehrperspektivisch betrachtet werden. Eine Möglichkeit dazu bietet des Bio-Psycho-Soziale-Modell der “Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF).11 Dieses geht davon aus, dass eine Behinderung durch die negative Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Körperfunktionen und -strukturen, ihrer Aktivitäten und der Partizipation, welche gleichzeitig in Relation zu den vorherrschenden Personal- und Umweltfaktoren betrachtet wird, entsteht.12 Klicken Sie hier für weitere Informationen.
Literatur
1 vgl. Stöppler, Reinhilde (2017): Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung. 2., aktualisierte Auflage. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag. S. 19
2 vgl. Fornefeld, Barbara (2020): Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik. 6. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag. S. 83
3 vgl. Speck, Otto (2018): Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung. 13. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag. S. 44
4 vgl. Fornefeld, Babara (2020): Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik. 6. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag. S. 71f.
5 Koch, Katja & Jungmann, Tanja (2017): Kinder mit geistiger Behinderung unterrichten. Fundierte Praxis in der inklusiven Grundschule. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag. S. 16
6 vgl. ebd., S. 17
7 Deutsches Institut für Medizinische Information (DIMDI) (2019): ICD-10-GM Version 2020, Systematisches Verzeichnis, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision. Verfügbar unter: https://www.dimdi.de/dynamic/.downloads/klassifikationen/icd-10-gm/version2020/icd10gm2020syst-pdf.zip. S.192 Abgerufen am 30.06.2022.
8 vgl. Stöppler, Reinhilde (2017): Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung. 2., aktualisierte Auflage. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag. S. 26
9 vgl. Fornefeld, Barbara (2020): Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik. 6. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag. S. 86
10 vgl. Ortland, Babara (2020): Behinderung und Sexualität. Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. S. 16
11 vgl. Theunissen, Georg (2021): Geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten. Basiswissen für Erziehung, Unterricht, Förderung und Therapie. 7., aktualisierte und erweiterte Auflage. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. S. 32ff.
12 vgl. Fornfeld, Barbara (2020): Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik. 6. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag. S. 69